Kapitel 1 - Power to all our friends

Samstag, 16. 6. 1973, 13 Uhr 30
Landstraße
»Marie, bitte stellen’S das Radio lauter!«
»… konnten die menschlichen Überreste, die am 13. Juni in einem Explosionskrater neben der Südautobahn entdeckt wurden, bislang nicht identifiziert werden. Derzeit ist die Polizei auf der Suche nach Zeugen und bittet die Bevölkerung um Mithilfe. Und nun zum Wetter …«
Frau Ehrenstein ließ sich in den gepolsterten Sitz des Opel Admiral zurücksinken und runzelte die Stirn. Sie verfolgte die Geschichte gebannt, seit die Gendarmerie letzte Woche nach einer Explosion in einem Feld vor den Toren Wiens Leichenteile gefunden hatte. Es gab zahlreiche Spekulationen – war es ein Unfall, ein Anschlag oder Suizid? Es überraschte sie nicht, dass die Ermittler noch nicht her
ausgefunden hatten, wer das Opfer war. Nicht nur, weil laut
Berichten bloß einzelne Körperteile gefunden wurden. Sondern auch, weil sie in den letzten eineinhalb Jahren einen ziemlich guten Eindruck von der Arbeit und den Fähigkeiten der Ordnungshüter gewinnen konnte, und dabei war das Vertrauen der gnä’ Frau etwas erschüttert worden.
Sie spürte einen eindringlichen Blick und wandte sich zur
Seite. Ihr Mann taxierte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen, um den Mund ein harter Zug. Dennoch glaubtesie, mehr Neugier als Vorwurf aus seiner Miene herauszulesen. Er hatte erst vor zwei Monaten von ihrem geheimen Doppelleben als Hobbydetektivin erfahren und beobachtete sie jetzt immer ganz genau, wenn in den Nachrichten von Verbrechen die Rede war. Als hätte sie bei jedem Mord in Wien die Finger im Spiel. Als hätte sie das Bedürfnis, je
des kriminelle Rätsel zu lösen. Nun, wenn er sich sorgte,
dass sie aus dem Auto springen würde, um Ermittlungen
über explodierende Menschen anzustellen, täuschte er sich.
Dieses Wochenende würde sie feiern.
Elektrische Gitarrenklänge dröhnten durch das Gefährt,
und Alice Cooper verkündete mit Überzeugung: »No more Mr. Nice Guy«.
»Drehen’S wieder leiser, Marie. Ich denke, meine Frau hat gehört, was sie hören wollte.« Oskar löste den Blick wieder von seiner Frau. Einzelne Härchen hüpften im Fahrtwind des offenen Fensters aus seiner zurückgegelten Frisur, während er auf die vorbeigleitenden grünen Felder sah.
»Vielen Dank, Marie!«, fügte die gnä’ Frau rasch hinzu. Ihr gefiel nicht, dass Oskar auf Höflichkeit vergaß, wenn er mit den Angestellten redete. Insbesondere, da er sonst so großen Wert auf Etikette legte.
Das Dienstmädchen nickte kurz mit einem sanften Lächeln und faltete die Hände wieder im Schoß. Sie saß vorn neben dem Chauffeur, der in seiner Uniform schrecklich schwitzte. Die gnä’ Frau war froh, ein ärmelloses Blumenkleid zu tragen.
»Haben die Trentners dir noch eine aktualisierte Gästeliste geschickt? Hat vielleicht noch jemand abgesagt?«
Oskars Frage war so betont beiläufig, dass Frau Ehrenstein schmunzeln musste.
»Nein, also gehe ich davon aus, dass alle, die eingeladen sind, auch kommen.«
Sie wartete auf eine Erwiderung, ein Seufzen oder wenigstens ein Schulterzucken, doch er blickte weiter starr wie eine Statue aus dem Fenster. Der erfrischende Fahrtwind wurde schwächer, als das Auto abbremste. Sie kamen an einem ovalen Schild vorbei, auf dem in verschnörkelten Lettern Willkommen in Traiskirchen stand. Darauf war eine schwarze Katze mit aufgestelltem Buckel abgebildet. Die
gnä’ Frau fragte sich nicht zum ersten Mal, ob das der Abschreckung dienen sollte. Heute kam es ihr wirklich wie ein schlechtes Omen vor.
Auf jeden Fall würde es nicht mehr lange dauern, bis sie da waren. Frau Ehrenstein kannte die Strecke gut. Sie besuchten Oskars Freunde ein paar Mal im Jahr, außerdem kam sie hier vorbei, wenn sie auf dem Weg zur Römertherme in Baden war. Gern ließ sie sich mit ihren Freundinnen im warmen Wasser treiben und genoss die Ruhe. Für Entspannung würde sie dieses Wochenende aber vermutlich keine
Zeit finden.
»Ohnehin viel zu heiß für die Therme«, murmelte sie.
»Was hast du gesagt?«
»Dass’d dir nicht so schrecklich viel Sorgen machen brauchst. Es wird schon werden! Außerdem hätte es schlimmer kommen können. Deine Eltern beglücken uns wenigstens erst am Sonntag.«
Ihr Mann ließ nur ein ungeduldiges »Hrrmpf« hören. Der gnä’ Frau, die nicht direkt betroffen war, fiel es leicht, die ganze Sache mit Humor zu nehmen und wie eine Seifenoper zu betrachten: eine nicht standesgemäße Hochzeit mit Potenzial für einen Skandal. Oskar fehlte dazu der Abstand.
Sie hatten im Wohnzimmer ihrer Villa in Hietzing schon ausgiebig über das Thema gesprochen. Sie mit einem Gläschen Whisky, er mit Brandy, musikalisch untermalt von Lou Reed. Sie hatte ihren Mann nicht beschwichtigen und nur mit Mühe überreden können, die Einladung zu diesem Wochenende überhaupt anzunehmen. Immerhin heiratete sein bester Freund nur einmal im Leben.